Vor wenigen Tagen hat Tetiana noch ihre Hochzeit geplant und sich auf ihren neuen Job gefreut. Doch dann kamen die russischen Bomber und veränderten alles. "Am 24. Februar um fünf Uhr morgens wurde ich vom Jaulen des ersten Bombenalarms geweckt", berichtet die Roma-Menschenrechtsaktivistin aus dem Nordosten der Ukraine, dieihren Nachnamen aus Sicherheitsgründen nicht genannt sehen will. "Die meisten Nachrichten, die ich seitdem erhalten habe, bestanden nur aus einer einzigen Frage: Lebst du noch?"
Sie solle flüchten, das Land verlassen, flehten ihre Freunde und boten ihre Unterstützung an: eine Wohnung und einen Job. Doch Tetiana kann nicht gehen. Ihre 82-jährige zukünftige Schwiegermutter schaffe kaum den Weg in den Keller, geschweige denn bis an die Grenze, sagt sie. Zudem dürfe auch ihr Verlobter - wie alle ukrainischen Männer - das Land nicht verlassen.
Sie sei wie gelähmt, überwältigt von der Situation. Gestern habe es fünf Mal Bombenalarm gegeben, zweimal mitten in der Nacht. Tetiana erzählt, sie nutze jede stille Sekunde, um Nachrichten darüber zu verbreiten, was vor Ort wirklich geschehe.
Natalia, ihre Kollegin, die ebenfalls noch im Land ist, aber ihren vollen Namen aus Furcht vor Repressionen nicht nennen will,ruft in diesem Video, das sie am fünften Tag des Krieges veröffentlicht hat, die Welt zur Hilfe auf.
Zivilisten als Ziele
Tatsächlich lauern die Gefahren überall. So hatte Tetiana seltsame Lichter in der Dunkelheit bemerkt und daraufhin die lokale Verteidigungsgruppe kontaktiert. Die Sicherheitskräfte erklärten ihr, dass es sich dabei um Lichter einer russischen Spionagegruppe handele. "Sie markieren die Häuser von Zivilisten, um diese dann zu attackieren. Die Häuser zu verlassen, ist aber ebenso gefährlich. Eine Familie aus meinem Heimatort wollte in eine andere Region fliehen. Sie wurde von russischen Truppen gestoppt und hingerichtet." Diese Angaben konnten von der DW nicht unabhängig verifiziert werden.
Tetiana lebt in dem Ort Ochtyrka, der genau auf der Route des russischen Militärs auf seinem Weg in das Zentrum der Ukraine liegt. Obwohl ihre Lage furchterregend ist, arbeitet sie, wann immer es möglich ist. Mittels sozialer Medien analysiert sie, an welchen Orten es zu welcher Zeit "still" ist, also sicher genug, um zum Beispiel Lebensmittel zu besorgen - sofern es welche gibt.
Die Menschenrechtsaktivistin hofft darauf, dass die politische Welt und deren Gerichte die härtesten Strafen gegen Putin und seine Kriegsverbrechen verhängen werden: "Dies ist ein Genozid an den ukrainischen Bürgern und an der ukrainischen Nation. Zivilisten werden gezielt angegriffen. In meinem Heimatort haben sie eine Vakuum-Bombe gezündet - dies ist ein Bruch aller internationalen Regelungen und Konventionen. Was sie unserem Volk antun, ist ein Verbrechen an der Menschheit."
Ihre Hoffnung könnte sich erfüllen. Denn tatsächlich hat der Menschenrechtsgerichtshof in Den Haag bereits Ermittlungen aufgenommen.
Geflüchtete zweiter Klasse?
In Friedenszeitensetzt sich Tetianafür die Gleichbehandlung vulnerabler Gruppen wie der Roma ein:"Die Roma waren schon vor dem Krieg eine benachteiligte Gruppe. Wir können uns nicht einmal vorstellen, wie sie jetzt gerade leiden. Es gibtBerichte darüber, dass Roma an verschiedenen Grenzen der Zugang in Nachbarländer verwehrt werde.
Laut offiziellen Zahlen leben ca. 50.000 Roma in der Ukraine. Die ukrainische Romnja-Organisation Chrikli schätzt jedoch, es könnten bis zu 300.000 sein. Die deutsche Gesellschaft für Bedrohte Völker, GfBV, bezeichnet die Minderheit der Roma als "das vergessene Volk". 40 Prozent von ihnen besäßenkeine Ausweisdokumente und viele seiennichtals Staatsbürger anerkannt.
Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose,warnt vor einer humanitären Katastrophe. "Die Menschen, die vor dem Krieg fliehen, müssen auch in Deutschland Schutz finden."
Roma kämpfen für die Freiheit derUkraine
Zola ist ebenso wie Tetiana Menschenrechtsaktivistin. Auch sie zieht es vor, nur mit ihrem Vornamen genannt zu werden. Sie war gerade in Berlin, um ihren Sohn zu besuchen, als der Krieg sie überraschte. "Niemand hatte wirklich daran geglaubt, dass das passiert." Noch vor wenigen Tagen hätten die Menschen in der Ukraine Pläne geschmiedet, niemand habe sich auf einen Krieg vorbereitet. "Jetzt wird Kiewstündlich bombardiert."
Seit Zola in Berlin angekommen ist, organisiert sie von der deutschen Hauptstadt aus Hilfsaktionen. Gemeinsam mit der internationalen Roma-Community verknüpft sie Betroffene, die diese Unterstützung dringend benötigen. Die Organisation European Roma Grassroots Organisations Network (ERGO)hat ein gemeinsames Statement gegen den Krieg veröffentlicht, dem sich Personen aus der Roma-Community sowie Verbündete mit ihrer Unterschrift anschließen können. Es verurteilt die Kriegsverbrechen an dem ukrainischen Volk und ruft die Russische Föderation dazu auf, alle Kampfhandlungen und jede Gewalt gegen die Ukraine einzustellen.
Das Roma-Netzwerk TERNYPE (die Jugend) hat eine Padlet-Plattform angelegt, auf derkollektiveInformationen zum Thema gesammelt und zur Verfügung gestellt werden.
Journalisten aus der Roma Community kooperieren in der Berichterstattung zur Ukraine auf einer gemeinsamen Plattform, um ihre Inhalte zentral verfügbar zu machen.
ERIAC unterstützt die ukrainische Jugendorganisation Youth Agency for the Advocacy of Roma Culture (ARCA)bei ihrem Spendenaufruf.
All diese Unterstützung aus dem Ausland macht Zola stolz - als Ukrainerin und als Romni. Auch in der Ukraine selbst seien die Roma aktiv an der Verteidigung der Heimat beteiligt: "Viele Roma öffnen ihre Häuser und nehmen Menschen auf. Viele haben sich der Armee angeschlossen und kämpfen für unser Land. Heute ist das ukrainische Volk so vereint wie noch nie zuvor. Wir sind vereint, um unser Land zu beschützen."
Zola hält an der Hoffnung fest, dass am Ende dieses Konflikts die Ukraine als Staatüberleben wird, und - so hofft sie - in Zukunft auch ein offizielles Mitglied der Europäischen Union wird: "Ich bin fest davon überzeugt, dass die Ukrainer Europäer sind. Sie haben das 2014 während der Maidan-Revolution schon bewiesen, und sie kämpfen heute immer noch für Demokratie und Freiheit."